Cover
Titel
Når staten er far og mor. Børneværnets anbringelser af børn i Danmark 1905–1975


Autor(en)
Bjerre, Cecilie
Reihe
University of Southern Denmark Studies in History and Social Sciences (605)
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
DKK 298,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ditte Storck Christensen, Institut für Pädagogik und Sonderpädagogik, Universität Göteborg/Schweden

Das 19. Jahrhundert ist eine historische Periode, in der die Macht und der Einfluss des Staates über das Leben von Familien stark zunahmen. Diese Macht wurzelte in einer schrittweisen Verstaatlichung der Kindererziehung, die zuvor hauptsächlich durch das Elternhaus sowie private Schulgründer und mit der gemeinnützigen Einrichtung von Kinderheimen beschäftigte Philanthropinnen und Philanthropen geleistet wurde (S. 36).1 In Schweden zeigte sich die zunehmende staatliche Verantwortung für die Kinder unter anderem im Hinblick auf den Ausbau des Volksschulwesens.2 Sowohl in Schweden als auch in Dänemark wurden bald auch spezielle Behörden mit der Befugnis eingerichtet, Eltern entsprechend ihrer Erziehungsberechtigung zu prüfen, wenn befürchtet wurde, dass das physische und moralische Wohl eines Kindes in Gefahr sei.3 Diese Behörden hatten das Mandat, Kinder von ihren Eltern trennen zu können und sie in Kinder- und Pflegeheimen zu betreuen, sofern Eingriffe dieser Art notwendig erschienen. In Dänemark wurde eine solche Instanz 1905 unter dem Namen værgerådet (Vormundschaftsrat) in allen Kommunen des Landes eingerichtet. 1933 wurde sie in børneværnet (Kinderfürsorge) umbenannt.

In ihrem Buch Når staten er far och mor: Børneværnets anbringelser af børn i Danmark 1905-1975 (auf Deutsch: „Wenn der Staat Vater und Mutter ist: Die Inobhutnahme von Kindern in Dänemark durch die Kinderfürsorge 1905-1975“) untersucht Cecilie Bjerre die Arbeit und Verhältnisse des børneværnet bis 1975, dem Jahr, in welchem die Einrichtung abgeschafft wurde. Das empirische Material des Buches, das auf Bjerres Doktorarbeit basiert, besteht hauptsächlich aus den Akten des børneværnet und ergänzenden Dokumenten, die eine Analyse der Logiken und Praktiken ermöglichen, die der Inobhutnahme beziehungsweise den Umplatzierungen der Kinder in Pflegefamilien oder -heimen zu Grunde lagen. Bjerre verfolgt in ihrer Arbeit die übergeordnete Frage, wie und aus welchen Gründen der dänische Staat im 20. Jahrhundert in das Leben von Familien eingriff. Bjerre benutzt für diese Art des direkten Kontakts den Begriff der „street-level bureaucracy“ des Sozialwissenschaftlers Michael Lipsky als Eingang in ihr Thema (S. 22).

Um sich ein Bild von den Hintergründen der Umplatzierungsbeschlüsse zu machen, fokussiert Bjerre vor allem auf die Darstellungen über Kinder und Eltern in den Akten des børneværnet. Ihren Ansatz motiviert Bjerre mit Verweis auf Carol Baccis von Foucault inspirierten Begriff der „Problematisierung“ (S. 25). Eine weitere Referenz für ihre Analyse ist Bourdieus Distinktion zwischen den jeweiligen Logiken von Sozialarbeit und Bürokratie (S. 79), mit deren Hilfe sie eine Spannung benennt, die von Anfang an die Arbeit der Angestellten des børneværnet kennzeichnete: Auf der einen Seite mussten sie einer formellen Prozedur mit der entsprechenden Dokumentation und Aktenarbeit folgen, auf der anderen Seite waren sie vornehmlich aufgrund ihres persönlichen, sozialpolitischen Interesses und Engagements angestellt.

Bjerres Buch besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil werden die Gesetzesänderungen und deren Vorarbeiten analysiert, die während des 70-jährigen Bestehens des børneværnet die Voraussetzungen für dessen Arbeit ausmachten. Aus diesen Dokumenten geht hervor, dass sich die Arbeit des børneværnet zu Beginn gegen „vagabundierende, verlogene oder unsittliche“ Kinder richtete (S. 37). Wir erfahren auch, dass die Dienstleistungen des børneværnet anfänglich aus ideeller Arbeit bestanden. 1958 wurde durch eine Reform verdeutlicht, dass das børneværnet vor allem vorbeugend arbeiten sollte, um die Familienverhältnisse zu verbessern und Inobhutnahmen beziehungsweise Umplatzierungen wenn möglich zu verhindern. Ziel wurde es, Umplatzierungen nur als letzten Ausweg anzuwenden, und möglichst nur mit Zustimmung der Eltern (S. 64–65.). Diese Sichtweise kennzeichnete die weitere Arbeit des børneværnet. Die Anzahl der Umplatzierungen hingegen blieb konstant.

Der zweite Teil des Buches handelt von der Arbeit des børneværnet. Hier thematisiert Bjerre verschiedene, seit den 1930er-Jahren unternommene Versuche, den Arbeitsgang des børneværnet zu professionalisieren und zu bürokratisieren. Bjerre notiert, dass jeder Fall von einer Gruppe mehr oder weniger qualifizierter Personen bearbeitet wurde und die Dokumentation dieser Arbeit zum Ende des Bestehens des børneværnet immer spärlicher wurde (S. 89).

Der dritte Teil des Buches konzentriert sich auf Analysen der Formulare, die bei der staatlichen Inobhutnahme und Umplatzierung eines Kindes ausgefüllt werden mussten. Hier geht es um die Frage, wessen und welche Kinder umplatziert wurden. Wir erfahren unter anderem, dass es häufig alleinerziehende und/oder erwerbstätige Mütter waren, deren Kinder von ihnen getrennt wurden, wenn auch manche von ihnen oft nur für eine begrenzte Zeit (S. 204 und 240).4

Teil vier behandelt schließlich die Machtverhältnisse zwischen Eltern und dem børneværnet, die in gewisser Weise von einer Rücksichtnahme auf die Rechte und Rechtssicherheit der Eltern geprägt waren. Im letzten Teil des Buches untersucht Bjerre den Heimkehrprozess derjenigen Kinder, die trotz aller präventiver Bemühungen umplatziert worden waren.

Når staten er far och mor ist ein informativer Beitrag über die Expansion des staatlichen Handlungsspielraums. Das Buch ist zudem für all jene Leserinnen und Leser von Interesse, die sich mit der Professionalisierung unterschiedlicher Berufe befassen, handeln viele Abschnitte doch von den Versuchen, die Arbeit des børneværnet zu spezialisieren und fachgemäßer zu machen. Besonders hervorzuheben sind diejenigen Bereiche der Untersuchung, die anhand von Regelungen und Analysen der Arbeit des børneværnet, die Einstellungen der Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter im bürokratischen Apparat gegenüber den Eltern herausarbeiten. In Bezug auf die Verstaatlichung der Sozialarbeit in Dänemark, die zuvor von Teilen der Zivilgesellschaft übernommen worden war, ist außerdem hervorzuheben, dass die staatlichen Sanktionsmöglichkeiten initial von – meist weiblichen – Philanthropinnen ausgeführt wurden, deren bürgerliche Normvorstellungen die Beurteilung (skøn) der Familien bei Hausbesuchen beeinflussten. Im Zuge der Professionalisierung des Berufs wurden Erwartungen an Ordnung und Redlichkeit durch gezieltere Beurteilungen der Eltern-Kind-Beziehung ersetzt. Dennoch: Wieder wurde der Standard für die „gute Familie“ durch eine privilegierte Gruppe bestimmt, den Experten, deren Beurteilung der Familienverhältnisse mit Verweis auf die Wissenschaft legitimiert wurde. Auf diese Weise etablierte sich ein neues Monopol, das Kinder von Eltern mit abweichenden Erziehungsnormen dem Risiko aussetzte, von ihren Familien getrennt und in Heimen platziert zu werden, die nicht immer ihre eigenen Standards erfüllten.

Bjerre interpretiert die Arbeitspraxis des børneværnet als Ausdruck für die Verschmelzung einer bürokratiefeindlichen Berufungsethik (Feldarbeit) mit bürokratischen Prozeduren (Papierarbeit) (S. 89). An mehreren Stellen erklärt Bjerre fehlende Dokumentation mit Verweis auf den Gedanken, dass viele Mitarbeiter:innen ihren Beruf auch als Berufung verstanden (beispielsweise S. 87, 134, 137). Die These der Diskrepanz zwischen Berufungsethik und bürokratischer Logik wird jedoch zumindest teilweise von dem Faktum unterminiert, dass die Philanthropinnen des børneværnet, Frauen von Ordnung und Redlichkeit, nach Bjerre selbst ihre Arbeit besser dokumentierten als die offensichtlich dokumentationsskeptischen Angestellten, die in den 1960er-Jahren deren Arbeit übernahmen (S. 130, 134, 137).

Bjerres Darstellung endet 1975, dem Jahr, in dem das børneværnet niedergelegt wurde. Nun möchte man wissen, ob die nachfolgenden Institutionen ihre Beschlüsse weiter auf individuelle Beurteilungen (skøn) stützen und ob es heute eine größere Sensibilität für Variationen in der Kindererziehung gibt. Die starke Elternorientierung lässt sich auch vor dem Hintergrund aktuellen Wissens über negative Konsequenzen von Schule auf Kinder problematisieren. In Schweden werden daher Verhaltensschwierigkeiten und psychisches Leid teilweise mit Verweis auf den Schulbesuch erklärt.5 In Anbetracht neuer Erkenntnisse über neuropsychiatrische Beeinträchtigungen bei Kindern wäre es ebenso falsch, das Verhalten dieser Kinder ausschließlich in Bezug auf die elterliche Erziehung und Familienverhältnisse zu erklären. Diese Erkenntnisse zeigen, dass Bjerres Frage, ob Kinder aus dem „richten“ Grund von ihren Eltern getrennt werden, ihre Aktualität behalten hat.

Anmerkungen:
1 Gunnar Richardson, Svensk utbildningshistoria – skola och samhälle förr och nu, Lund 2010.
2 Johannes Westberg, En politisk illusion? 1842 års folkskolestadga och den svenska folkskolan, in: Uddannelseshistorie 48 (2014), S. 52-70.
3 Kajsa Ohrlander, I barnens och nationens intresse – Socialliberal reformpolitik 1903-1930. Stockholm 1992.
4 Viele Kinder blieben auch dauerhaft in staatlicher Obhut. So lebten im Jahr 1969 ungefähr 10.000 Kinder außerhalb ihres Elternhauses. Gleichzeitig wurden in jenem Jahr 1.111 Kinder wieder in ihre Familien zurückgebracht. Auch wenn in diesem Zeitraum die Anzahl zurückkehrender Kinder vermutlich anstieg, macht Bjerre jedoch keine Aussage darüber, in welchem Verhältnis diese Zahlen zu früheren Jahren stehen, oder wie sich die Anzahl in Obhut genommener, dauerhaft umplatzierter und zurückgekehrter Kinder prozentual ausdrückt (siehe S. 204, 240).
5 Folkhälsomyndigheten, Varför har den psykiska ohälsan ökat bland barn och unga i Sverige? Stockholm 2018.